Tagesspiegel-Gastbeitrag: Lebenslanges Lernen als Chance für eine moderne Gesellschaft
Für den Tagesspiegel haben Maren-Jasper Winter und ich einen Gastbeitrag zum Thema „Man lernt nie aus – Lebenslanges Lernen als Chance für eine moderne Gesellschaft“ geschrieben.
Man lernt nie aus – Lebenslanges Lernen als Chance für eine moderne Gesellschaft
Weiterbildung, das klingt in Deutschland vor allem nach abendlichen Fremdsprachkursen in verstaubten Hinterzimmern oder drögen Pflichtseminaren für die Firma, deren tatsächlicher Nutzen im Verborgenen bleibt. Weiterbildung hat ein Imageproblem, dabei wird sie heute und in Zukunft zu einer Schlüsselaufgabe unser Gesellschaft. Wir sind überzeugt, Bildung – egal in welchem Alter oder Lebensabschnitt – ist die Basis für selbstbestimmtes Leben und Arbeiten.
Schon heute arbeiten 21 Millionen Menschen in Deutschland nicht in ihrem erlernten Beruf oder haben keinen formalen Berufsabschluss. Durch die Digitalisierung werden 40 Millionen Menschen künftig andere Kompetenzen in ihrem Beruf benötigen. Das Erwerbsleben wird flexibler, individueller und dynamischer. Die Corona-Pandemie hat diese Entwicklung beschleunigt und verstärkt.
Gleichzeitig kann das Lernen in jedem Alter auch Element eines modernen Sozialstaats sein, der Menschen nicht nur auffängt, sondern sozialen Aufstieg ermöglicht. Ein Schulabbruch oder fehlende Ausbildung muss nicht länger ein bleibender Makel im Berufsleben sein, wenn wir Möglichkeiten schaffen, die notwendige Qualifikationen auch zu einer anderen Zeit zu erwerben. Wenn Menschen ihr Leben so eigenständig gestalten können und geradlinige Lebensläufe kein Muss mehr sind, bedeutet dies auch mehr Freiheit und Selbstständigkeit für jede und jeden Einzelnen.
Der Regierung fehlt eine Vision, wie lebensbegleitendes Lernen in Deutschland und Berlin aussehen soll. Die Nationale Weiterbildungsstrategie dreht an kleinen Schrauben und blendet große Teile der Weiterbildungslandschaft aus. Berlin ist eines von zwei Bundesländern, das noch nicht einmal ein Gesetz zur Erwachsenenbildung hat. Ein solches Gesetz ist dringend notwendig. Denn es vermittelt Struktur und Strategie der Weiterbildung in Berlin. Ein Gesetzesentwurf liegt zwar schon seit längerem vor, kommt aber nicht voran. Die dringend erforderliche umfassende Strategie für lebenslanges Lernen und die Verzahnung der einzelnen Institutionen fehlt weiterhin.
Doch Weiterbildung und Bildungszeiten muss man sich leisten können. Trotz zahlreicher Unterstützungsmaßnahmen scheitert der Bildungszugang vor allem bei geringer Vorqualifikation und niedrigem Einkommen häufig am Geld. Wir Freie Demokraten schlagen deshalb ein persönliches Freiraumkonto für alle Bürgerinnen und Bürger vor, auf dem man Guthaben für die eigene Weiterbildung ansparen kann. Sonderzahlungen, Überstunden und nicht genutzte Urlaubstage sollen mit Steuer- und Sozialversicherungsvorteilen eingezahlt werden können. Menschen mit geringem Einkommen wollen wir mit einem Midlife-Bafög dabei unterstützen. So wie das BAföG seit den 1970er Jahren ganzen Generationen den Weg in die Hochschulen öffnet, wollen wir allen Menschen einen Zugang zur Bildung in der Mitte des Lebens ermöglichen.
Oftmals scheitert die Weiterbildung an der schier unübersichtlichen Vielzahl von Angeboten. Die sind über zahlreiche Portale verstreut und für den oder die Einzelne oft schwer auffindbar. Über 4,5 Millionen Angebote gibt es bundesweit, aber keine zentrale Anlaufstelle. In Berlin umfasst allein die Weiterbildungsdatenbank Berlin 38.000 Treffer. Für einen niedrigschwelligen Zugang schlagen wir neben einer verstärkten Weiterbildungsberatung eine digitale Bildungsarena vor, in der jeder und jede in wenigen Sekunden das passende Angebot und Empfehlungen für die nächsten Schritte findet. Die Suche nach dem richtigen Kurs oder E-Learning-Modul soll so einfach werden wie das Stöbern im Online-Shop.
Auch kleine und flexible Bildungsmodule sollten gestärkt werden. Viele Menschen suchen nicht mehr das mehrjährigen Masterstudium oder umfassende Fortbildungen, sondern passgenaue Angebote, die sich mit Familie und Beruf vereinbaren lassen. In den USA oder Israel bieten Universitäten kostenlos digitale Seminare an, die von hunderttausenden Menschen genutzt werden. Warum schaffen wir nicht eine Europäische Digitale Hochschule, die jedem Menschen die beste Lehre ganz Europas ins Wohnzimmer bringt? In der beruflichen und akademischen Bildung sollten auch kleinere Bildungsschritte anerkannt und zertifiziert werden. Zertifizierte Teil- und Zusatzqualifikationen (Micro Degrees) befördern einen passgenauen Bildungsaufstieg, der sich schrittweise auch zu größeren Qualifikationen aufbauen lässt. Auch E-Learning-Plattformen, offene Vorlesungen (MOOCs) und hybride Formate sollten ausgebaut werden.
Begreifen wir Weiterbildung nicht länger als lästige Pflicht oder erzwungene Veränderung, sondern als das was sie ist: Eine Chance für lebenslanges Lernen und damit eine Möglichkeit für lebenslange persönliche Entwicklung. In Zeiten eines rasanten technologischen und gesellschaftlichen Wandels hat man nicht mehr “ausgelernt”. Schaffen wir die politischen Rahmenbedingungen und eine Kultur der Weiterbildung, damit Menschen ihrer naturgegebenen Lernfreude ein Leben lang nachgehen können.